Publikationen K: Bibliographie Harm Klueting VII: Leserbriefe

Leserbriefe 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2019, Nr. 24, S. 6

Demokratische Traditionen auch im Kaiserreich

Peter Sturm würdigt in der F.A.Z. vom 19. Januar mit Recht die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland vor 100 Jahren. Seine Feststellung: „Alle durften wählen, wenn sie mindestens 20 Jahre alt waren. Alle Stimmen hatten das gleiche Gewicht, die Zeiten des berühmt-berüchtigten Dreiklassenwahlrechts aus dem Kaiserreich waren also vorbei“, leugnet die demokratischen Traditionen, die es auch im Kaiserreich und vor allem im Reichstag des kaiserlichen Deutschlands gab, in dem die SPD seit 1912 die stärkste Fraktion bildete, nachdem sie nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes in der Reichstagswahl von 1890 19,7 Prozent der Stimmen erlangt hatte. Unter dem Dreiklassenwahlrecht wäre das nicht möglich gewesen.

Tatsächlich führte die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 als Bundesparlament den Reichstag ein, der nach Artikel 20 der Verfassung aus allgemeinen und direkten Wahlen bei geheimer Abstimmung hervorging. Übernommen wurde dabei das Wahlrecht der Frankfurter Paulskirche von 1849, das somit auch in die – mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes weitgehend identische – Reichsverfassung vom 1. Januar 1871 einging, während durch den Beitritt der süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt der Norddeutsche Bund zum Deutschen Reich wurde. Das Dreiklassenwahlrecht galt nur für Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus.

Was die Verfassung von 1867/1871 allerdings nicht kannte, war das Frauenwahlrecht, das in Europa erstmals 1906 in dem damals zu Russland gehörenden Finnland und in Großbritannien und Irland, nahezu gleichzeitig mit Deutschland, erst 1918 eingeführt wurde. In Frankreich mussten die Frauen bis 1944 warten.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.2012, Nr. 142, S. 34 

Napoleon, Hitler, Karl XII. von Schweden 

Thomas Speckmann ist zu seinem großen Artikel „Moskau war der Köder, und Napoleon schluckte ihn“ (F.A.Z. vom 16. Juni) und zu dem Blick auf die Verpflegungsoffiziere und die einfachen Soldaten sehr zu gratulieren. Aber zwei Dinge sind anzumerken. Erstens: Napoleons Russland-Feldzug von 1812 und Hitlers 1941 begonnener Krieg gegen die Sowjetunion und das katastrophale Scheitern beider Unternehmungen hatten gut hundert Jahre vor Napoleon einen Vorläufer. Im Zweiten Nordischen Krieg der Jahre 1700 bis 1721 marschierte König Karl XII. von Schweden 1708 gegen den Rat seiner Generale und politischen Berater in das Russland Peters des Großen ein und versuchte, Smolensk zu erobern. Als sich das als unmöglich erwies, wandte er sich in die Ukraine, wo die schwedische Armee im Juli 1709 in der Schlacht von Poltawa eine vernichtende Niederlage erfuhr. Karl XII. floh in das Osmanische Reich. Die schwedischen Truppen kapitulierten und wurden nach Sibirien deportiert. Zweitens: Der Blick auf die einfachen Soldaten, auf die jetzt auch im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr diskutierten posttraumatischen Störungen von Kriegsteilnehmern und die Quellengattung der Briefe und Tagebücher einfacher Soldaten. Ich habe als „Doktorvater“ vor rund zehn Jahre eine von der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf mit einem Stipendium geförderte historische Dissertation zum Thema „Strandgut des Krieges. Die soziale Lage Kriegsversehrter in deutschen Armeen des Absolutismus und der napoleonischen Zeit (1648-1815)“ angeregt und betreut. Im Mittelpunkt standen einfache Soldaten der bayerischen Armee von den Türkenkriegen des späten 17. Jahrhunderts bis zum Russland-Feldzug Napoleons, an dem Bayern als Rheinbundstaat teilnahm. Die Quellenbasis bestand vor allem aus einer sehr großen Zahl von Bittbriefen kriegsversehrter einfacher Soldaten an den Kurfürsten von Bayern und an andere Fürsten – nicht selten Briefe, die des Schreibens unkundige Soldaten ihrem Dorfpfarrer diktiert hatten – mit teilweise ergreifenden Schilderungen ihres Einsatzes, zum Beispiel bei der überaus blutigen Eroberung von Belgrad 1688, ihrer Verwundungen und ihrer posttraumatischen Störungen. Leider hat der Verfasser, Michael Reiff, die nahezu abgeschlossene Dissertation nach dem Eintritt in den höheren Schuldienst nicht mehr zur Begutachtung eingereicht. Ich hoffe immer noch auf Fertigstellung und Veröffentlichung dieser bedeutenden Dissertation. 

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.2011, Nr. 17, S. 36 

Das christliche Gegenmodell 

Leser Stefan Schmitt hat recht, wenn er in seiner Zuschrift „Die Blutspur des Kapitalismus“ (F.A.Z. vom 14. Januar) feststellt, dass es neben der Blutspur des Kommunismus und der Blutspur des „deutschen Faschismus“ auch die Blutspur des Kapitalismus gibt. 

Als Historiker könnte ich seine These mit vielen Belegen untermauern. Er hat auch recht, wenn er nach „Gegenmodellen“ und nach einer „Alternative zu den kapitalistischen Lebensverwertungsbedingungen“ sucht und diese unter verschiedenen Namen artikuliert sieht und schlussfolgert: „Einer davon ist ganz einfach. Er heißt: Mensch.“ Das klingt nach Humanität. Aber was ist die höchste Form der Humanität? Das ist der christliche Glaube, in dem Gott selbst Mensch wird, und das ist die Botschaft dieses menschgewordenen Gottes: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Nun komme man mir nicht mit Religionskriegen, Schwertmission, Judenmassakern, Ketzerverfolgungen oder Hexenverbrennungen. Das alles ist mir als Historiker bestens vertraut. Es ist die bittere Realität einer christlichen Blutspur. Aber das sind antichristliche Verunstaltungen des Christlichen. 

Der Glaube an den menschgewordenen Gott und an das Doppelgebot der Liebe, den das Christentum mit keiner anderen Weltreligion teilt, macht den christlichen Glauben zu der wahren antikommunistischen, antinazistischen und antikapitalistischen Alternative. Wenn dieser Glaube von immer mehr – und nicht, wie es scheint, von immer weniger – Menschen angenommen und in Politik und Wirtschaft und auch in Kirchen und Religionsgemeinschaften handlungsleitend würde, hätten wir bald eine gerechte und friedliche Welt. 

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Rheinischer Merkur Nr. 14 vom 3. April 2008

Über Familie reden die wenigsten

Die Reportage von Gerd Felder über evangelische Geistliche, die nach  einer Konversion zur römisch-katholische Kirche mit einem Dispens des Heiligen Stuhls von der Zölibatspflicht zum katholischen Priester geweiht wurden, habe ich als katholischer und früher evangelischer Theologe mit großem Interesse gelesen. Die Sache ist jedoch in keiner Weise als Hebel gegen den Zölibat geeignet und sollte auch nicht so verstanden oder dargestellt werden. Es handelt sich um evangelische (oder auch orthodoxe oder anglikanische) Geistliche, die – oft unter großen Schmerzen – den Weg in die römisch-katholische Kirche gefunden haben. Wenn es für diese Geistlichen seit 1952 die Möglichkeit der Weihe nach einem Dispens von der Zölibatspflicht gibt, dann deshalb, weil die römisch-katholische Kirche erstens die vor einem evangelischen Pfarrer geschlossene Ehe höher bewertet als die evangelische Kirche selbst, nämlich als sakramentale Ehe, und weil  sie zweitens das sakramentale Handeln des Betroffenen in seiner Zeit als evangelischer Amtsträger höher bewertet, als es vielfach in der evangelischen Kirche selbst geschieht. Ein in der evangelischen Kirche ordinierter Theologe, der die beiden in der evangelischen Kirche allein anerkannten Sakramente  – Taufe und Abendmahl – und insbesondere das Sakrament des Altars verwaltet hat, soll dieses als katholischer Priester ebenfalls tun können. Der Dispens hebt lediglich unter ganz bestimmten Bedingungen die Kollision zwischen den beiden an sich unvereinbaren Sakramenten der Ehe und der Weihe beziehungsweise Ordination auf. Entscheidend ist, dass auch der ehemalige evangelische und als Verheirateter nunmehr katholische Geistliche der Zölibatspflicht unterliegt: Sollte seine Ehefrau sterben, so ist er an einer neuen Eheschließung gehindert. Und das ist gut so.

Prof. Dr. theol. Dr. phil. Harm Klueting, 50923 Köln.

Zu diesem Leserbrief erfolgte am 08.12.2009 eine Anmerkung: 

1. Selbstverständlich begründet die Konversion zur römisch-katholischen Kirche für keinen (ehemaligen) evangelischen Geistlichen keinen wie auch immer gearteten Anspruch oder gar Rechtsanspruch auf Zulassung zur Priesterweihe. 2. Für die römisch-katholische Kirche ist nicht die vor evangelischen Pfarrer geschlossene Ehe zweier evangelischer Christen eine sakramentale Ehe (das ist auch nach Auffassung der evangelischen Kirche nur eine Segnung einer bereits bestehenden Ehe), sondern die vor dem Standesbeamten geschlossenene Ehe zweier Getaufter (evangelischer Christen).

Prof. Dr. Dr. Harm Klueting 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2005, Nr. 19, S. 8

Beseitigung der Alten

Zum Beitrag „Der moderne Tod“ (F.A.Z.-Feuilleton vom 13. Januar): Hans Magnus Enzensberger ist zu danken, daß er den Text des schwedischen Schriftstellers Carl-Henning Wijkmark von 1978 in Auszügen bekanntgemacht hat. Allerdings kommen mir die fiktiven Äußerungen höchst bekannt vor, weil sie mir vor sechzehn Jahren real begegnet sind. Im Sommer 1989 nahm ich an der Universität von Edinburgh in Schottland an einer Diskussionsrunde mit rund 20 Studenten und Studentinnen vorwiegend wirtschaftswissenschaftlicher Fächer und großenteils aus ost- und südostasiatischen Ländern (Japan, Taiwan, Singapur) teil. Es ging um die auch damals schon absehbare Überalterung der Gesellschaften der entwickelten Industrieländer, um Verteilungsprobleme im Zeichen von Ressourcenknappheit und um politische Steuerungsmöglichkeiten. Man war sich einig, daß den beruflich nicht mehr produktiven Bevölkerungsteilen das aktive und das passive Wahlrecht aberkannt werden müsse, wobei sich die Mehrzahl der Diskussionsteilnehmer für eine Wahlrechtsgrenze bei Vollendung des siebzigsten Lebensjahres aussprach. Darüber hinaus hielt man die sukzessiv einzuführende Beseitigung der Alten für wünschenswert und machbar, wobei drei Tötungsmethoden erörtert wurden: erstens Verweigerung medizinischer Behandlung im Krankheitsfall unter Hinweis auf Kosten- und Nutzengesichtspunkte, zweitens lebensbeendende Giftzusätze in der Nahrung oder in Getränken in Altenheimen und ähnliches und drittens Überzeugungsarbeit und praktische Anleitungen mit dem Ziel des fröhlichen Suizids der Alten. Der Variante drei wurde allgemein der Vorzug gegeben.

Professor Dr. Dr. Harm Klueting, Köln

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In der F.A.Z. nicht abgedruckter zweiter Leserbrief mit folgender Ergänzung:

„Am 24. Januar haben Sie dankenswerterweise meinen Leserbrief zum Beitrag ‚Der moderne Tod‘ (F.A.Z.-Feuilleton vom 13. Januar) veröffentlicht. Leider fehlen die drei letzten Sätze. Zur Vermeidung von Mißverständnissen hier die drei letzten Sätze: ‚Als Historiker und Theologe und mit damals 40 Jahren fast doppelt so alt wie die meisten Gesprächsteilnehmer hörte ich solche Gedanken zum ersten Mal. Ich war tief erschrocken, zumal nur eine einzige junge Frau dezidiert andere Ansichten vertrat – eine japanische Anglistikstudentin, mit der ich heute noch engen Kontakt habe. Mir ist die Begebenheit vom Sommer 1989 als Menetekel unvergeßlich'“.   

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.2002, Nr. 218, S. 23

Auch in Hermannstadt

In der F.A.Z. vom 2. September berichten Sie über die Eröffnung der Gyula-Andrássy-Universität in Budapest. Ihre Aussage, diese Hochschule sei „die erste außerhalb deutschsprachiger Staaten, an der der Vorlesungsbetrieb ausschließlich in deutscher Sprache stattfinden wird“, bedarf der Ergänzung. Im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) besteht seit langem die deutschsprachige Evangelisch-Theologische Hochschule (Evangelisch-Theologische Fakultät), an der der Vorlesungsbetrieb ausschließlich in deutscher Sprache stattfindet. Man wünschte sich für diese Hochschule mehr Beachtung in Deutschland. Bei entsprechender Alimentierung nach Budapester Muster wäre die Hermannstädter Hochschule über die theologische Fakultät hinaus als deutschsprachige Hochschule in Südosteuropa entwicklungsfähig zu einem Zentrum theologischer, historischer, sprach- und kulturwissenschaftlicher, rechts- und politikwissenschaftlicher Studien in deutscher Sprache. So könnte die Hochschule über die Theologie hinaus als eine Art Leuchtturm für das in die Europäische Union strebende Rumänien und für angrenzende Regionen wie Bulgarien, Moldova, Ungarn, die Slowakei oder die Ukraine wirken. Leider wird das Potential, das man hier aktivieren könnte, in Deutschland kaum beachtet und überhaupt nicht genutzt.

Professor Dr. Harm Klueting, Münster

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.1995, Nr. 278, S. 12

Nicht aus der Vulgata übersetzt

Im Feuilleton der F.A.Z. vom 22. November bringen Sie – als Beitrag zu dem als gesetzlicher Feiertag nicht mehr existierenden Buß- und Bettag – den hochinteressanten Artikel des Wissenschaftlichen Mitarbeiters der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart, Manuel Santos-Noya, der den von ihm dort aufgefundenen lateinischen Bibeldruck behandelt und die handschriftlichen Eintragungen Martin Luther zuschreibt. Der Fund ist fraglos bemerkenswert, auch wenn die Zuschreibung der Glossen und Marginalien an den Reformator noch gründlicher Überprüfung bedarf. Sicher falsch ist jedoch die von Ihnen gewählte Überschrift, wonach es sich hier um „Martin Luthers persönliche Vulgata, aus der er das Neue Testament und die Fünf Bücher Mose übersetzte“, handelt.

Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, die im September 1522 als „Septembertestament“ herauskam, lag die 1519 bei dem Drucker Froben in Basel erschienene zweite Ausgabe des von Erasmus von Rotterdam herausgegebenen griechischen Textes und nicht die lateinische Vulgata zugrunde. Als Vorlage für seine 1534 abgeschlossene Übersetzung des Alten Testaments, zu dem die Fünf Bücher Mose, der Pentateuch, gehören, nutzte Luther im wesentlichen die 1494 in Brescia erschienene dritte hebräische Gesamtausgabe und somit ebenfalls nicht die lateinische Vulgata. Bei dem in Stuttgart aufgefundenen Bibeldruck wird es sich somit, wenn die Zuschreibung der handschriftlichen Notizen an Luther sich als richtig erweist, allenfalls um Luthers Handexemplar der Vulgata handeln, das ihm bei der Übersetzungsarbeit als zusätzliche Orientierungshilfe gedient haben wird, sicher aber nicht um die Vorlage seiner Übersetzung. Der Fund ist also auch im Falle nachweisbarer Authentizität weniger spektakulär, als Ihre Überschrift es suggeriert.

Professor Dr. Harm Klueting, Köln

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.1993, Nr. 34, S. 8

In Alt-Europa mit Handkuß

In der F.A.Z. vom 22. Januar bringen Sie im Beitrag von Ulrich Schlie zum dreißigjährigen Bestehen des deutsch-französischen Vertrages ein Foto, auf dem Bundeskanzler Adenauer 1962 Madame de Gaulle mit Handkuß begrüßt. In der Bildunterschrift heißt es: „Die Verwestlichung hatte die Bundesrepublik auch im Erlernen von zivilisierten Umgangsformen zu beweisen, hier demonstriert von Bundeskanzler Adenauer gegenüber Madame de Gaulle.“ Das ist – mit Verlaub – kompletter Unsinn. Der Handkuß kam als Grußform der Ehrerbietung bereits im 16./17. Jahrhundert aus Spanien nach Deutschland, wo er vor allem im Adel geübt wurde. Im 19. Jahrhundert übernahm in Deutschland und – vor allem, aber keineswegs nur – in Österreich die bürgerliche Oberschicht den Handkuß als Grußform der Ehrerbietung von Männern gegenüber verheirateten Damen.

Auch heute ist der Handkuß in Deutschland in traditionellen Oberschichtfamilien durchaus üblich. Hingegen ist der Handkuß in dem doch zweifellos „westlichen“ England kaum verbreitet. Man lese dazu die 1991 erschienenen Erinnerungen des Grafen Dankwart von Arnim an seinen Aufenthalt in England kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs: „Jeden Tag wurde ich zum Tee in ein anderes Haus geführt (. . .) Als besondere Attraktion galt der kontinentale Handkuß, der in England an sich verpönt war, nun aber bei den Tee-Einladungen von mir erbeten wurde.“ Im übrigen hat es in Deutschland vor 1945 nicht nur borniert-brutale SA-Schlägertruppen gegeben, sondern auch kultivierte Menschen, die sich der kultivierten Umgangsformen der alteuropäischen Oberschichten zu bedienen wußten. Das Problem Deutschlands vor 1945 liegt nicht im Mangel an zivilisierten Umgangsformen, sondern darin, daß Auschwitz trotzdem möglich war. Adenauers Handkuß von 1962 ist somit sicher kein Ausweis von Verwestlichung und neugewonnener Zivilisierung.

Professor Dr. Harm Klueting, Köln

Westdeutsche Allgemeine (WAZ) Nr. 128 vom 6. Juni 1978

Formulierung greift Menschenwürde an

Zu ‚Mutmaßlicher Terrorist in Paris festgenommen‘ (WAZ v. 13.5). Sie schreiben, ein mutmaßlicher Terrorist sei ‚in Paris zur Strecke gebracht‘ worden. Eine solche entgleiste Formulierung verstößt nicht nur gegen Artikel 1, 1 des Grundgesetzes, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist, und gegen wesentliche Grundwerte des Christentums, sondern stellt in ihrer menschenverachtenden Schärfe eine ungewollte Unterstützung der Sache des Terrorismus dar. Schließlich ist es sprachlicher Unsinn, da der mutmaßliche Terrorist nicht erschossen wurde, sondern verhaftet.

Bochum,  Dr. Harm Klueting 

ANMERKUNG 1: Dieser Leserbrief, der am 13.05.1978 verfasst wurde, führte zu einer brieflichen Entschuldigung der Redaktion der Westdeutschen Allgemeinen: „Essen, den 22.5.78. Sehr geehrter Herr Dr. Klueting, mit Ihrer Kritik an der Formulierung ‚zur Strecke gebracht‘ im Zusammenhang mit einem Fahndungserfolg der Polizei haben Sie gewiß Recht. Leider ist der von unserem Korrespondenten benutzte Ausdruck bei der redaktionellen Bearbeitung übersehen worden. Wir bitten um Entschuldigung. Mit freundlichen Grüssen! Dieter Jeworrek. P.S. Wir wollen versuchen, Ihren Brief in einer der nächsten Ausgaben zu veröffentlichen“. 

ANMERKUNG 2: Der Leserbríef wurde nur gekürzt veröffentlicht. Die ursprüngliche Fassung hatte folgenden Wortlaut: „Auf dem Titelblatt der W.A.Z. vom Samstag den 13.5.1978 schreiben Sie, ein mutmaßlicher Terrorist aus Deutschland sei von deutschen Beamten ‚in Paris zur Strecke‘ gebracht worden. Gegen diese aus der Sprache der Jäger, die Wild zur Strecke bringen, entlehnte Formulierung muß auch derjenige protestieren, der Abscheu und Zorn gegenüber den Taten der Terroristen und ihrer Helfershelfer empfindet. Man bringt einen Menschen nicht zur Strecke wie Hasen und Rehe. Eine solche entgleiste Formulierung verstößt nicht nur gegen Artikel 1, 1 des Grundgesetzes, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist, und gegen wesentliche Grundwerte des Christentums, sondern stellt in ihrer menschenverachtenden Schärfe eine ungewollte Unterstützung der Sache des Terrorismus dar. Schließlich ist es sprachlicher Unsinn, da der mutmaßliche Terrorist nicht erschossen wurde, sondern verhaftet. Dr. Harm Klueting, Bochum“. 

Von der F.A.Z. nicht abgedruckter Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung

4. Februar 2008

Im Land des Kardinals von Galen

Wir sind erschüttert über die Karikatur „Die Entscheidung der Ölmultis macht Schule“ auf der ersten Seite Ihrer Ausgabe vom 4. Februar 2008. Auf dem Rücken geistig Behinderter und psychisch Kranker machen Sie sich lustig über die Abschaffung der Treibstoffsorte „Normal“. Die Karikatur gibt die Schwächsten der Gesellschaft der Lächerlichkeit preis und kommt ihrer Herabwürdigung gleich. Muslime können sich gegen Mohammed-Karikaturen in dänischen Zeitungen wehren. Psychisch Kranke können sich gegen ihre Verhöhnung auf der Titelseite der führenden deutschen Tageszeitung nicht wehren. Im Übrigen geht es bei psychisch Kranken nicht um „Normal“ oder „Unnormal“. Psychisch Kranke haben dieselbe Würde wie die zufällig Gesunden, eine Würde, die − um den neuen Erzbischof von München und Freising zu zitieren − nicht vom Menschen abhängt, sondern von Gott selbst gegeben ist. Sie verdienen keinen Spott, sondern unsere Zuwendung. Am allerwenigsten dürfen sie dazu missbraucht werden, Produktentscheidungen internationaler Konzerne zu karikieren. Eine solche Entgleisung, wie sie der F.A.Z. hier passiert ist, darf im Land des Kardinals von Galen nicht unwidersprochen bleiben.

Prof. Dr. theol. Dr. phil. Harm Klueting, Köln und Fribourg

Dr. phil. Edeltraud Klueting, Münster